Suche

Gebärdensprache DGS-Button Leichte Sprache LS-Button
Erweiterte Suche

Ariadne Pfad:

Inhalt

Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 27.05.2011:

„Die inklusive Schule kommt allen Schülerinnen und Schülern zugute“

Über die Vorteile der inklusiven Schule
Das Bild zum Artikel
Hubert Hüppe, Quelle: "axentis"

Deutschland hat 2008 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet. Diese fordert die Vertragspartner unter anderem dazu auf, alle Kinder in allgemeinen Schulen in heterogenen Lerngruppen der Vielfalt der Begabungen entsprechend zu unterrichten. Die Online-Redaktion sprach mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe, über den Ausbau der inklusiven Schule und darüber, dass alle Kinder einen Anspruch darauf haben, eine Regelschule zu besuchen.


Online-Redaktion: Viele Eltern wünschen sich für ihr Kind mit Behinderung einen Platz an einer Regelschule. Bisher hatten nicht viele Chancen darauf. Was ist seit der Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und dem Versprechen, für mehr „inclusive education“ Sorge zu tragen, an den Schulen passiert?

Hüppe: Leider entspricht die Schulsituation noch nicht der UN-Behindertenrechtskonvention. Der Anteil der Schüler an Förderschulen nimmt in manchen Förderschwerpunkten sogar noch zu. Kindern wird immer noch das Recht genommen, eine Regelschule zu besuchen. Allerdings lassen sich viele Eltern seit der UN-Behindertenrechtskonvention nicht mehr so schnell entmutigen. Die öffentliche Diskussion um die inklusive Schule hat mit der UN-Behindertenrechtskonvention an Bedeutung gewonnen. Erschreckend ist in den Debatten, dass immer noch mehr über die Bewahrung bestehender Systeme gesprochen wird als über die Zukunft der betroffenen Kinder.

Online-Redaktion: Wie sieht inklusiver Unterricht in der Praxis aus, und worin unterscheidet er sich vom integrativen Unterricht?

Hüppe: Inklusiver Unterricht zeichnet sich dadurch aus, dass jedes Kind, ob mit oder ohne Behinderung, in einem gemeinsamen Unterricht individuell gefördert wird. Das ist das Gegenteil von "Einheitsschule". Das bedeutet, dass jedes Kind nach seinen persönlichen Fähigkeiten gefördert wird, vom Kind mit Lernschwierigkeiten bis zum hochbegabten Kind.

Integrativer Unterricht ist dagegen eher auf die Eingliederung von zunächst ausgesonderten Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gerichtet.

Online-Redaktion: Welches sind die Vorteile einer inklusiven Schule?

Hüppe: Die Vorteile einer inklusiven Schule sind, dass jedes Kind optimal gefördert wird. Die Gewinner-Schulen des Jakob-Muth-Preises haben bewiesen, dass durch die inklusive Schule nicht nur Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf bessere Lernergebnisse erzielen, sondern auch Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf. Gleichzeitig verbessern alle Schülerinnen und Schüler ihre Sozialkompetenz. Das wirkt sich auch bei der Teilhabe am Arbeitsleben und an der Gesellschaft für behinderte Menschen aus. Sie müssen nicht erst integriert werden, sondern gehören selbstverständlich auch im Erwachsenenleben dazu. Arbeitgeber, die während der Schulzeit Kontakt mit behinderten Menschen hatten, werden viel eher bereit sein, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Die Wirklichkeit ist, dass heute fast drei Viertel der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Schule ohne einen Hauptschulabschluss verlassen. Einmal Sonderweg, immer Sonderweg. Der Weg in die Werkstatt für behinderte Menschen oder in die Arbeitslosigkeit ist vorgezeichnet.

Online-Redaktion: In vielen europäischen Nachbarländern ist die inklusive Schule längst Normalität. Wie ist die Stimmung an den Regelschulen in Deutschland? Ist der Wille zum gemeinsamen Unterricht vorhanden?

Hüppe: Das ist unterschiedlich. Da, wo inklusiver, beziehungsweise gemeinsamer Unterricht angeboten wird, wird er sehr positiv von Schülern, Eltern, Lehrern und der Schulleitung bewertet. An anderen Regelschulen ist eher eine abwartende bis ablehnende Haltung vorhanden. Das scheint insbesondere dort der Fall zu sein, wo man sich mit den "Regel"-Schülern bereits überfordert sieht. Auf vielen Veranstaltungen zum Thema bekomme ich aber den Eindruck, dass auch bei Skeptikern das Interesse und die Neugier am gemeinsamen Unterricht steigen und die Überzeugung wächst, dass die inklusive Schule allen Schülerinnen und Schülern zugute kommt. Als entscheidend wird angesehen, die notwendigen Rahmenbedingungen an Regelschulen zu schaffen. Ich habe festgestellt, dass der Wille zum inklusiven Unterricht hierbei die wichtigste Voraussetzung ist.

Online-Redaktion: Wie unterstützen Bund und Länder die Bemühungen der Schulen?

Hüppe: Schulpolitik ist Ländersache. Deshalb gibt es für den Bund nur geringe Einflussmöglichkeiten. Allerdings stelle ich bei vielen politisch Verantwortlichen auf Bundesebene eine breite Unterstützung für die inklusive Schule fest. Bei den Ländern gibt es kein einheitliches Bild. Manche bemühen sich, in Richtung inklusive Bildung zu gehen, andere scheinen weitestgehend am Förderschulsystem festhalten zu wollen. Für einige Kultusministerien scheint bereits die unterschiedliche Besoldung von Sonder- und Regelschullehrern ein unüberbrückbares Hindernis darzustellen. Ich habe auch manchmal den Eindruck, dass teilweise absichtlich keine guten Rahmenbedingungen für behinderte Kinder und Jugendliche an Regelschulen geschaffen werden, um zu beweisen, dass Inklusion nicht funktioniert. Der vor kurzem von der Kultusministerkonferenz vorgestellte Entwurf zur „Inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen“ war jedenfalls eher der kleinste gemeinsame Nenner als ein nennenswerter Beitrag für mehr Chancen von Kindern mit Behinderungen auf Regelbeschulung. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Eltern sich immer noch rechtfertigen müssen, wenn sie wollen, dass ihr Kind eine Regelschule besucht. Die große Enttäuschung vieler betroffener Eltern über diesen Entwurf ist jedenfalls sehr gut nachvollziehbar. Das Recht von Kindern auf einen Regelschulbesuch wird durch den Entwurf konterkariert.

Online-Redaktion: Sollen die Förderschulen langfristig abgeschafft werden und wenn ja: was passiert mit den Sonderschullehrer/innen?

Hüppe: Es geht nicht um die Zukunft von Systemen, sondern um die Zukunft der Kinder. Wer von einem Denken ausgeht, bestehende Strukturen zu bewahren, verhindert Lösungswege. Das Förderschulsystem spiegelt nicht unsere Lebenswelt wieder. Allein der regelmäßig lange Fahrweg führt behinderte Kinder in die soziale Isolation. Nachmittags spielen mit Nachbarskindern, die man aus der Schule kennt? Im derzeitigen Schulsystem nicht möglich. Eine Orientierung an Vorbildern in der Schule, z.B. um besser sprechen zu lernen? Im jetzigen Schulsystem ebenfalls Fehlanzeige. Teilweise verlernen Kinder, die auf inklusiven Grundschulen waren, das Lesen und Schreiben sogar wieder, wenn sie – mangels inklusiver weiterführender Schulen – eine Förderschule besuchen müssen. Die Förderung muss also den Schülern folgen, nicht umgekehrt. Langfristig kann es keine parallelen Strukturen geben, allein weil kein Land bereit sein wird, diese zu unterhalten. Es muss deshalb schnellstmöglich ein Umbau hin zu einem inklusiven Schulsystem erfolgen. Die Kompetenz der Sonderschullehrerinnen und –lehrer wird dabei im inklusiven Unterricht gebraucht. Zukünftig muss außerdem viel mehr darauf geachtet werden, alle Lehrerinnen und Lehrer so aus- und weiterzubilden, dass sie ausreichend kompetent sind, einen inklusiven Unterricht zu gestalten und auf die Bedürfnisse aller Kinder und Jugendlichen einzugehen.

Online-Redaktion:
Welches sind Ihre Aufgaben als Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen?

Hüppe: Ich habe die Aufgabe, darauf hinzuwirken, dass der Bund seiner Verantwortung nachkommt, für gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen zu sorgen und zwar in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.

Ich wirke mit Initiativen im politischen, öffentlichen und kulturellen Bereich auf gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen hin. Im Bereich Bildung gehört dazu beispielsweise der Jakob-Muth-Preis für inklusive Schule, den ich zusammen mit der Deutschen UNESCO-Kommission und der Bertelsmann Stiftung ausrichte, und ich verantworte die Landkarte der inklusiven Beispiele, unter anderem inklusiver Schulen.

Online-Redaktion:
Was muss passieren, damit die deutsche Schullandschaft in zehn Jahren die Inhalte der UN-Konvention erfüllt?

Hüppe: Ich hoffe nicht, dass wir noch zehn Jahre darauf warten müssen. Die Länder müssen eindeutig ihren Willen für inklusive Bildung bekunden. Sie müssen jetzt klare Regelungen schaffen, damit jedes behinderte Kind eine Regelschule besuchen kann. Die deutsche Schullandschaft muss sich insbesondere auf mehr individuelle Förderung einstellen. Inklusive Bildung muss zu einem Qualitätsmaßstab von Schulpolitik und Schulverwaltung werden. Was wir brauchen, sind Lehrerfortbildungen zum gemeinsamen Unterricht. In die Lehrerausbildung gehört dringend der Umgang mit heterogenen Lerngruppen. Es müssen eine inklusive Didaktik mit entsprechenden Lehrplänen ausgearbeitet und verbindliche Standards gebildet werden, was unter inklusiver Bildung zu verstehen ist. Sonderpädagogische Förderung muss umgestaltet werden. Anstelle von Feststellungsverfahren muss eine begleitende Diagnostik treten.


Hubert Hüppe, Jahrgang 1956, ist seit dem 01. Januar 2010 tätig als Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. Der gelernte Diplom-Verwaltungswirt war von 1991 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und ist kooptiertes Mitglied im Bundesvorstand der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V., Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Spina bifida und Hydrocephalus e.V. sowie des Fachbeirates der BAG Integrationsfirmen e.V., der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen e.V., der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB), der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CAD) und des Deutschen Beamtenbundes (DBB - KOMBA).



Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 27.05.2011
© Innovationsportal

Ihr Kommentar zu diesem Beitrag. Dieser Beitrag wurde bisher nicht kommentiert.

 Weitere Beiträge nach Innovationsgebieten (Archiv).

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion von Bildung + Innovation erlaubt.

Die Redaktion des Online-Magazins Bildung + Innovation arbeitet journalistisch frei und unabhängig. Die veröffentlichten Beiträge bilden u. a. auch interessante Einzelmeinungen zum Bildungsgeschehen ab; die darin zum Ausdruck gebrachte Meinung entspricht nicht notwendig der Meinung der Redaktion oder des DIPF.

Inhalt auf sozialen Plattformen teilen (nur vorhanden, wenn Javascript eingeschaltet ist)

Teile diese Seite: