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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 29.06.2023:

„Wir wollen zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen.“

ApplicAid unterstützt Bildungsbenachteiligte beim Zugang zum Stipendiensystem
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: Nicole Heßberg/Annika Scharnagl

ApplicAid ist eine gemeinnützige Organisation aus Stipendiat*innen verschiedener Förderwerke, die talentierte junge Menschen aus bildungsbenachteiligten Gruppen auf ihrem Weg zu einem Stipendium unterstützt und sich für einen nachhaltigen Systemwandel in der deutschen Stipendienlandschaft einsetzt. Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit Nicole Heßberg und Annika Scharnagl über Chancenungerechtigkeit in der Bildung und was ApplicAid dagegen tut.

Online-Redaktion: Wie entstand die Idee zu ApplicAid und was sind die Ziele der Organisation?

Heßberg: Die Idee dazu entstand im Frühjahr 2018. Backtosch Mustafa, unser Gründer, war zu dem Zeitpunkt selbst Stipendiat und hat festgestellt, dass bildungsbenachteiligte Gruppen deutlich seltener Stipendien erhalten. Daraufhin hat er ApplicAid ins Leben gerufen und das Online-Mentoring gestartet.

Scharnagl: Mit dem Online-Mentoring für Benachteiligte wollen wir zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen. Natürlich wissen wir, dass Stipendien keine Breitenförderung sind und dass mit einem Stipendium nur einer kleinen ausgewählten Gruppe an Personen geholfen werden kann. Doch wir tragen dazu bei, dass diese ausgewählte Gruppe erweitert wird. Chancengerechtigkeit in der Breite können wir aber nicht durchsetzen. Dazu muss das Bildungssystem insgesamt fairer gestaltet werden. Bildungsbenachteiligte stehen in Schulen und an Universitäten vor vielen Hürden, wie z.B. Vorurteilen gegenüber ihrer Leistungsfähigkeit. Diese müssen abgebaut werden.

Online-Redaktion: Und wie verläuft das Online-Mentoring?

Heßberg: Das Online-Mentoring unterstützt Interessierte, die sich bereits für ein Stipendium entschieden haben, aber noch Beratung und Hilfe brauchen. Sie werden von uns mit einer Mentor*in zusammengebracht, der/die dieses Stipendium bereits erhalten hat. Zusammen klären sie in einem Zeitraum von circa sechs Wochen alle Fragen zum Bewerbungsprozess, bis die Zu- oder Absage eingeht. Sie helfen auch beim Verfassen des Bewerbungs- und des Motivationsschreibens.

Online-Redaktion: Gibt es noch weitere Bausteine der Stipendienberatung bei ApplicAid?

Heßberg: Während das Mentoring mehr für Personen ist, die schon wissen, für welches Stipendium sie sich bewerben möchten und dabei Unterstützung brauchen, habe ich 2021 zusätzlich die Stipendienberatung für diejenigen gegründet, die noch herausfinden wollen, welches der rund 3000 Stipendien in Deutschland für sie in Frage kommt. In einer halbstündigen 1-zu-1-Beratung klären wir sie auf und ermutigen sie dazu, sich zu bewerben. Empowerment steht im Mittelpunkt der Beratung. Deshalb ist es ein großer Vorteil, dass die meisten unserer ehrenamtlichen Berater*innen selbst (Alt-)Stipendiat*innen sind und ihnen vermitteln können: Ich habe es geschafft und du schaffst es auch! Darüber hinaus bieten wir einmal im Monat einen offenen Workshop an, in dem ebenfalls grundlegende Informationen zum Thema weitergegeben werden und 2021 haben wir einen Stipendienratgeber veröffentlicht. Dieser fasst das Wichtigste zusammen, was man über Stipendien wissen muss, von der Stipendiensuche über die Vorbereitung, das Motivationsschreiben, Empfehlungsschreiben und erfolgreiche Strategien für Auswahlgespräche.

Scharnagl: Außerdem haben wir Anfang Mai 2023 die ApplicAid Community auf Discord gestartet, in der sich alle, die an dem Thema interessiert sind, mit verschiedenen Stipendien auseinandersetzen und untereinander austauschen können. Hier findet man auch Erfahrungsberichte, Motivationsschreiben und kann in direkten Kontakt mit Leuten treten, die die Bewerbung schon absolviert haben. Auch unser Podcast „Die Stipendienberaterinnen - der Chancen-Podcast von ApplicAid e.V.“ ist dieses Jahr gestartet. Hier gibt es im Gespräch mit Gästen alles Wichtige zur Stipendienbewerbung und zur vielfältigen Stipendienlandschaft in Deutschland sowie auch persönliche Einblicke in Stipendienprogramme.

Online-Redaktion: Wer kann bei ApplicAid Unterstützung erhalten?

Scharnagl: Mit unseren Angeboten möchten wir Menschen mit Schwierigkeiten in der Bildungsbiografie und aus bildungsbenachteiligten Gruppen unterstützen, die aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände Hürden bei der Bewerbung auf ein Stipendium erleben. Dies schließt unter anderem folgende Gruppen ein: Personen aus einem nicht-akademischen Elternhaus, Menschen mit Migrationsgeschichte, Personen mit Fluchterfahrung, Personen mit niedrigem sozioökonomischen Status (z.B. Personen, die BAföG beziehen), Personen, die mit Sozialleistungen (z.B. Sozialhilfe, Hartz IV oder Bürgergeld) in Armut aufgewachsen sind oder derzeit damit leben, chronisch kranke Menschen und Personen mit psychischer oder physischer Beeinträchtigung, Personen, die in der stationären Jugendhilfe (z.B. einer Wohngruppe oder Pflegefamilie) leben oder gelebt haben (auch Careleaver genannt) und Menschen, die anderweitigen Schwierigkeiten in der Bildungsbiografie ausgesetzt sind oder waren.

Online-Redaktion: Sind alle bei ApplicAid Beteiligte ehrenamtlich tätig?

Scharnagl:
ApplicAid wird überwiegend von Ehrenamtlichen betrieben. Etwa 70 Menschen engagieren sich mehrere Stunden pro Woche ehrenamtlich. Wir haben sowohl Teams, die sich mit den Hauptbereichen unserer Tätigkeiten, nämlich der Stipendienberatung, dem Mentoring und den Workshops beschäftigen, als auch solche, die Presse- und Social-Media-Arbeit betreiben, sich um die Hubs (Regionalgruppen) kümmern oder für den weiteren Erhalt des Vereins in finanzieller Hinsicht im Business Development Team sorgen. Dazu kommen rund 540 ehrenamtliche Online-Mentor*innen, die rund 200 verschiedene Stipendienprogramme abdecken. Durch finanzielle Förderung haben wir auch drei hauptamtlich Beschäftigte.

Online-Redaktion: Wie konnten Sie in so kurzer Zeit so viele Ehrenamtliche gewinnen?

Heßberg: Die meisten, die bei ApplicAid aktiv sind, sind selbst Stipendiat*innen bzw. Altstipendiat*innen aus den unterschiedlichsten Programmen. Deshalb sind wir gut vernetzt und konnten viele andere (Alt)Stipendiat*innen für unsere Arbeit gewinnen. Die meisten haben ein Bewusstsein dafür, was Menschen mit bildungsbenachteiligtem Hintergrund an Hürden zu überwinden haben und sind gerne bereit, etwas zu mehr Chancengleichheit beizutragen. Über Preise, die von Begabtenförderwerken und Stiftungen an Stipendiat*innen für herausragendes Engagement vergeben werden, und von denen wir viele gewonnen haben, wie auch den europäischen Bürgerpreis, den wir 2022 erhalten haben, konnten wir unsere Bekanntheit zusätzlich steigern, sodass einige Interessierte auch von sich aus auf uns zugekommen sind.

Online-Redaktion: Was leisten die Regionalgruppen, die Sie an verschiedenen Standorten aufgebaut haben?

Heßberg:
In Zeiten der Corona-Pandemie hat es uns unabhängig gemacht, komplett online zu agieren, aber dann haben wir gemerkt, dass es manchmal auch leichter ist, Menschen über Präsenzveranstaltungen zu erreichen. Deshalb haben wir Regionalgruppen, Hubs, wie wir sie nennen, in unterschiedlichen Regionen aufgebaut. Hier können sich (Alt)Stipendiat*innen vor Ort einbringen, die sich nicht so gerne digital engagieren möchten. Sie vertreten uns auch auf Messen oder Erstsemesterveranstaltungen und treten in direkten Kontakt mit jungen Menschen mit bildungsbenachteiligtem Hintergrund. Unser Ziel ist es, bundesweit noch mehr Standorte aufzubauen, aber das hängt davon ab, ob wir Ehrenamtliche in den jeweiligen Regionen finden, die Interesse daran haben, sich zu engagieren.

Online-Redaktion: Bieten die Hubs auch Beratungen an?

Scharnagl: Es gibt einen ersten Informationsaustausch, aber noch keine tiefergreifende Beratung. Das können die Ehrenamtlichen in den Hubs auch nicht so gut leisten wie das Kernteam der Stipendienberatung, wo eine individuell abgestimmte Beratung gewährleistet wird. Die Hubs wirken viel mehr als Repräsentanten von ApplicAid nach außen und stellen erste Kontakte zum Beispiel im Rahmen einer Veranstaltung an einer Universität her. Ab August 2023 wird eine neue Hubkoordination finanziell gefördert, die den Aufbau weiterer Hubs in Ostdeutschland begleiten wird.

Online-Redaktion: Wie erreichen Sie bildungsbenachteiligte Schüler*innen und Student*innen noch?

Heßberg: Wir erreichen sie über Social Media, über unsere Partnerorganisationen - die Joachim Herz Stiftung, die START-Stiftung, die Frauendorfer-Förderstiftung, Schulbehörden und Organisationen wie ArbeiterKind.de und InteGREATer e.V. - sowie unsere Botschafter*innen. Auch Studierendenwerke in Deutschland, mit denen wir gut verknüpft sind, verweisen auf uns als Beratungsstelle. Das funktioniert gut, wir sind auf jeden Fall durchweg ausgebucht.

Online-Redaktion: Gehen Sie auch direkt an Schulen, um Schüler*innen auf ApplicAid aufmerksam zu machen?

Heßberg: Seit Anfang des Jahres betreue ich das Projekt „Stipendien-Counseling“ in Hamburg, in dessen Rahmen wir an Schulen Lehrkräfte, Schüler*innen und Eltern über die Möglichkeiten eines Stipendiums informieren. Die Hamburger Bürgerschaft hat beschlossen, Informationen über Stipendien an Schulen stärker anzubieten, von daher reagieren sowohl Schulbehörde als auch Schulen sehr offen auf uns. Wir haben bereits verschiedene Workshops an Hamburger Schulen durchgeführt, über die wir mehrere Hundert Schüler*innen mit bildungsbenachteiligtem Hintergrund erreicht haben. Unser Wunsch ist es, dieses Projekt auch an anderen Standorten aufzubauen.

Online-Redaktion: Wie wird die Stipendienberatung angenommen und wie vielen Teilnehmenden konnten Sie schon zu einem Stipendium verhelfen?

Heßberg: Mit unseren Angeboten konnten wir in den vergangenen Jahren Tausenden jungen Menschen weiterhelfen. Bis heute haben unsere Mentees Stipendien im Wert von 1,3 Millionen Euro erhalten. Wir sind also sehr zufrieden mit dem Erfolg unserer Arbeit. Natürlich führt nicht jede von uns begleitete Bewerbung zum Erhalt eines Stipendiums, aber vielen Mentees können wir trotzdem einen Anstoß geben, sich mit sich und ihren Zielen auseinanderzusetzen und sie dazu ermutigen, nicht aufzugeben, sondern es bei weiteren Stipendiengebern zu versuchen. Wir bestärken sie darin, ihre Zukunft in die eigene Hand zu nehmen und das ist ein tolles Gefühl!


Nicole Heßberg ist seit Anfang 2020 bei ApplicAid aktiv und hat unter anderem die Stipendienberatung und den Podcast „Die Stipendienberaterinnen” ins Leben gerufen. Sie hat als erste Person ihrer Familie das Abitur absolviert. Nach einem Bachelor in Soziologie und Politikwissenschaft hat sie 2021 ihren Master in digitaler Arbeit erfolgreich abgeschlossen. Heute arbeitet sie hauptamtlich bei Applicaid e.V. als Projektleitung des Hamburger Stipendien Counselings.


Annika Scharnagl ist seit März 2023 im Vorstand von ApplicAid für die Koordination der verschiedenen Teams zuständig. Vorher war sie seit Mai 2021 in der Stipendienberatung. Sie ist Co-Host des Podcasts „Die Stipendienberaterinnen” und kommt aus einem nicht-akademischen Elternhaus. Nach ihrem BA-Studium der Internationalen Beziehungen und Geschichte absolviert Annika einen Erasmus-Mundus-Masterstudiengang im Bereich Internationale Sicherheit und verfasst zurzeit ihre Masterarbeit zum Thema Deradikalisierung von IS-Anhängerinnen.



Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 29.06.2023
© Innovationsportal

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