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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 29.01.2015:

Grundschüler werden gemeinsam unterrichtet

Das Rügener Inklusionsmodell
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Das Rügener Inklusionsmodell
Quelle: Universität Rostock

Auf der Insel Rügen lernen seit dem Schuljahr 2010/2011 alle Kinder gemeinsam. Das Rügener Inklusionsmodell (RIM) setzt auf eine enge Verbindung von diagnostischen Maßnahmen und darauf ausgerichteten Unterrichts- bzw. Fördermaßnahmen. So sollen Lernlücken frühzeitig erkannt und geschlossen werden.


Seit dem Schuljahr 2010/2011 wird auf der Insel Rügen in Kooperation mit den dortigen Grund- und Förderschulen, dem Staatlichen Schulamt Greifswald sowie dem Bildungsministerium Mecklenburg-Vorpommern das Rügener Inklusionsmodell (RIM) umgesetzt. D.h. alle Grundschulkinder lernen dort gemeinsam, es werden keine Kinder mehr in eine Diagnoseförderklasse, eine Sprachheilklasse oder eine Klasse eines sonderpädagogischen Förderzentrums aufgenommen. Die Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen erhalten stattdessen einen festen Stundenanteil in einer Grundschule. Ihr Einsatz erfolgt in enger Abstimmung mit den Lehrkräften der jeweiligen Schule.

Das Konzept „zur Prävention von sonderpädagogischem Förderbedarf und Integration von Kindern mit bereits vorliegenden Entwicklungsstörungen in den Bereichen Lernen, Sprache sowie Emotionale und Soziale Entwicklung“ wurde am Institut für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung und Rehabilitation der Universität Rostock erarbeitet. Mitinitiiert und stetig begleitet wurde es in den vergangenen vier Jahren durch eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Bodo Hartke.

Der Response to Intervention-Ansatz (RTI)
Das Rügener Inklusionsmodell, auch bekannt unter der Bezeichnung „Präventive und Integrative Schule auf Rügen“ (PISaR), lehnt sich an den US-amerikanischen Response to Intervention-Ansatz (RTI) an und ist auf deutsche Verhältnisse adaptiert. Kernelemente des Konzeptes sind neben der wissenschaftlich begründeten Auswahl von Unterrichts- und Fördermaterialien die intensivierte Unterstützung für Kinder mit Lernschwierigkeiten oder Entwicklungsauffälligkeiten auf mehreren Förderebenen sowie regelmäßige Lernstandserhebungen zur Analyse der Lernentwicklung der Kinder. Mehrebenen-Prävention, evidenzbasierte Praxis, Diagnostik sowie Lernfortschrittsdokumentation spielen eine wesentliche Rolle.

Das Konzept setzt auf eine enge Verbindung von diagnostischen Maßnahmen und darauf ausgerichteten Unterrichts- bzw. Fördermaßnahmen. Als Präventionskonzept zielt es darauf ab, den Lernerfolg der Kinder zu sichern, indem Lernlücken frühzeitig erkannt und geschlossen werden. Sowohl die leistungsstarken als auch die leistungsschwachen Kinder erhalten bereits bei ersten Anzeichen für besondere Begabungen, aber auch Entwicklungsstörungen oder Schulschwierigkeiten eine gestufte Förderung. Reicht die Förderung auf der gegenwärtigen Stufe nicht aus, erfolgt eine intensivere Förderung auf der nächst höheren Stufe. Meist wird, so auch im Modellprojekt auf Rügen, ein Konzept auf drei Förderstufen umgesetzt. Die Materialien sind auf ihre erfolgreiche Anwendung geprüft. Für die Grundschul- und Sonderpädagogen liegen klare kooperative Aufgabenverteilungen innerhalb der Präventionsebenen vor.

Um Kinder mit Entwicklungsrisiken zu identifizieren und gezielt fördern zu können, werden mehrere über das Schuljahr verteilte Screening-Verfahren durchgeführt. Die zentrale Vorgehensweise stellt das progress monitoring dar. Mit Hilfe von curriculumbasierten Messungen werden die Lernfortschritte der Schüler in umschriebenen Lernbereichen zeitnah beurteilt. Dabei lösen die Kinder innerhalb einer zeitlichen Vorgabe von meist nur wenigen Minuten möglichst viele Aufgaben eines Tests aus einem Kompetenzbereich. Die Messungen werden in regelmäßigen Abständen (monatlich bis wöchentlich) durchgeführt und ermöglichen neben der Dokumentation des Lernfortschritts auch die Kontrolle, ob das Kind die erwarteten Lernziele erreicht. Das durch die Universität Rostock begleitete Projekt ist deutschlandweit der erste Versuch, ein umfassend strukturiertes Konzept gemäß dem RTI-Ansatz flächendeckend in einer Region umzusetzen.

Ist das Rügener Modell erfolgreich?

Um zu prüfen, ob die Umsetzung des Modells in den Rügener Schulen erfolgreich gelingt, hat die Rostocker Arbeitsgruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Bodo Hartke geprüft, wie sich die Kinder unter den veränderten Lernbedingungen entwickeln. Dazu wurden die Lernerfolge der Rügener Schüler, die im inklusiven Unterricht lernen, jeweils zum Schuljahresende mit den Lernerfolgen der Kinder der Stadt Stralsund, die im herkömmlichen Schulsystem mit Grundschulen, Förderklassen, Sprachheilschulen oder Sonderschulen unterrichtet werden, verglichen. Im Fokus standen jeweils die Fächer Mathematik, Lesen und Rechtschreiben, aber auch die emotionale soziale Entwicklung der Kinder (Verhaltensauffälligkeiten), das Lernen sowie das Aufholen von Sprachentwicklungsstörungen.

Erste Ergebnisse
Im ersten Versuchsjahr, dem Schuljahr 2011/12, wurden Hartke zufolge die Erwartungen an das Inklusionsmodell wegen leicht geringerer Leistungen der Schüler auf Rügen noch nicht erfüllt. Zwei Jahre später, zum Ende der dritten Klasse, kam die inklusive Förderung zu vertretbaren Ergebnissen sowohl im Hinblick auf die Gesamtgruppe der Rügener Schüler als auch auf die Gruppen der Schüler mit einem besonderen Förderbedarf. Zwar fielen in der Kontrollgruppenstudie zwischen Rügen und Stralsund die direkten Leistungsvergleiche für Schülerinnen und Schüler ohne Beeinträchtigungen - den Bereich Lesen ausgenommen - etwas besser für die Stralsunder aus, dennoch zeigen weitere Ergebnisse, insbesondere die VERA-Daten, positive Einflüsse des RIM auf die allgemeine Schulleistungsentwicklung in der Region. Auf Rügen wurden, ebenso wie in Stralsund, durchschnittliche Leistungen im Lesen, Rechnen und Rechtschreiben erzielt, die Stralsunder Schüler waren in Mathematik und im Rechtschreiben nur gering besser. Dafür zeigten sich bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt Lernen „deutliche Erfolge auf Rügen“ gegenüber Altersgenossen aus Stralsund, ebenso seien bei den Rügener Kindern mit dem Förderschwerpunkt „emotional-soziale Entwicklung“ positive Effekte zu verzeichnen. Bei Schülern mit dem Förderschwerpunkt Sprache zeigten sich gleichwertige Ergebnisse.

RIM geht weiter
Im Sommer 2014 schloss der erste Jahrgang, der nach dem RIM unterrichtet wurde, die Grundschulzeit ab. Aufgrund der guten Ergebnisse werden auch die nachfolgenden Grundschuljahrgänge inklusiv unterrichtet. Die in diesen Jahrgängen mitwirkenden Lehrkräfte erhalten dafür, wie bisher, Fortbildungen. Für die Schülerinnen und Schüler des ersten RIM- Jahrgangs geht die inklusive Beschulung in der Regionalen Schule weiter. Alle am Rügener Modell beteiligten Kinder werden dort gemeinsam von Regelschullehrkräften und Sonderpädagoginnen und -pädagogen inklusiv unterrichtet und gefördert.

„Das hat nichts mit Inklusion zu tun“

Kritik am Rügener Inklusionsmodell gibt es von Inklusionsforscher Prof. Andreas Hinz. In seinem Aufsatz „Inklusion – von der Unkenntnis zur Unkenntlichkeit!? - Kritische Anmerkungen zu einem Jahrzehnt Diskurs über schulische Inklusion in Deutschland“, den er Anfang 2013 in der Zeitschrift für Inklusion veröffentlichte, bemerkt er: „Bei dem RTI-Modell scheint ein deutlich behavioristischer Zugang durch, der von einer linearen Vorstellung des Lernens ausgeht, eine massive Verstärkung der Kontrolle von Leistungsentwicklungen anstrebt und offenbar dem Glauben folgt, sie fern jeglicher Bezüge zur Lebenswelt durch Intervention zur Normalentwicklung bringen zu können.“ Der extreme Einsatz an standardisierten Tests, mit deren Hilfe die von einer angenommenen Norm abweichenden Schülerinnen und Schüler frühzeitig identifiziert und zu passiven Empfänger/inne/n einer defizitorientierten individuellen Förderung gemacht werden, steht für ihn in völligem Widerspruch zu inklusiver Pädagogik „mit ihrer Vorstellung des Lernens als aktivem, wenn nicht sogar expansivem Prozess, der Akzeptanz individueller Lernwege und der Begleitung (einschließlich produktiver Reibung) zwischen allgemeinen Entwicklungsvorstellungen und individuellen Ausformungen von Interessen, Lernschritten und Lernwegen in positiver Interdependenz, etwa im Kooperativen Lernen, aber auch im Pluralistischen Lernen demokratischer Bildung und in kreativen Ergänzungserfahrungen.“

Hier gehe es nicht um einen veränderten Umgang mit Heterogenität, sondern um eine „Sonderpädagogisierung“ der allgemeinen Schulen. Das RTI-Modell versuche, so Hinz, „die Kinder zu üblichen und offenbar selbstverständlich vorausgesetzten Entwicklungswegen ‚hinzufördern‘, sie sind und haben ‚das Problem‘, und wenn sie sich nicht entsprechend den Vorgaben fördern lassen, tritt die nächste Stufe des Modells mit noch massiveren Tests und Interventionen – und ggf. der Überführung in eine Förderschule – in Kraft. Hier ist massiv und aggressiv fördernde und fordernde Sonderpädagogik am Werk, das hat nichts mit Inklusion zu tun.“




Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 29.01.2015
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