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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 30.01.2020:

„Sprachliche und fachliche Förderung müssen Hand in Hand gehen.“

Individuelle Nachhilfe in Berlin-Wedding
Das Bild zum Artikel
Herbert Weber bei der Nachhilfe
Bildrechte: Ilja Reiner

Der kostenlose Förderunterricht SprInt (SPRache und INTegration) ist ein Projekt zur Bildungs- und Sprachförderung im Berliner Wedding. SprInt wendet sich an motivierte Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund vom 5. bis zum 13. Schuljahr, die ihre Noten verbessern und gute Abschlüsse schaffen wollen. SprInt unterstützt diese Kinder und Jugendlichen in allen Schulfächern und fördert sie in ihrer Fach- und Schriftsprachlichkeit durch Lehramtsstudierende, die dabei selbst Schulpraxis sammeln. Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit Herbert Weber, der den Förderunterricht 2005 aufgebaut hat und seitdem erfolgreich führt.


Online-Redaktion: Sie bieten seit 2005 Förderunterricht für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Berlin-Wedding an. Was hat Sie dazu motiviert?

Weber: Ich habe damals zufällig mitbekommen, dass türkische Eltern eine Nachhilfe für ihre Kinder gegründet haben, damit diese besser gefördert werden. Ihre Kinder kamen in der Schule nicht mit, und die Eltern konnten ihnen aus sprachlichen und fachlichen Gründen nicht helfen. Da ist mir bewusst geworden, dass viele türkisch-arabische Eltern, und seien sie noch so bildungsfern und arm, wie alle Eltern ein ganz großes Interesse daran haben, dass ihre Kinder gute Bildung kriegen. Und es gibt einen großen Bedarf, es gibt viele Kinder, die in der Schule nicht wirklich gut gefördert werden und die individuelle Unterstützung brauchen.

Online-Redaktion: Wie kam es dann zur Gründung von SprInt?

Weber: Die Stiftung Mercator schrieb 2005 das Programm „Förderunterricht für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund“ aus, auf das ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit bei der RAA Berlin e.V. beworben hatte. Inhalt des Programms war es, Fach- mit integrierter Sprachförderung an Schulen anzubieten, die additiv am Nachmittag stattfinden sollte. Das hat zunächst nicht funktioniert, da in einem Kiez wie dem Wedding am Nachmittag keiner mehr zur Schule geht. Daraufhin haben wir die Förderlehrkräfte im Unterricht eingesetzt, damit sie individuell mit den Schülerinnen und Schülern unterrichtsbegleitend arbeiten, und das hat gut geklappt.

Online-Redaktion: Ist die RAA Berlin Träger und Förderer des Programms?

Weber: Bisher war sie das. Die RAA unterstützt viele Bildungsprojekte für Benachteiligte wie bilinguale Sprachförderprogramme, Antidiskriminierungsarbeit oder Jugendarbeit an Schulen. Als gemeinnütziger Verein wird sie durch Stiftungen, öffentliche Mittel und Spenden gefördert. Auch das Projekt SprInt wurde in den Jahren seit 2005 von der Stiftung Mercator, der Lotto Stiftung Berlin oder privaten Spendern finanziert und erhält seit einigen Jahren außerdem eine Förderung des Berliner Senats. Zum 1. Januar 2020 habe ich mich einvernehmlich von der RAA getrennt und mich mit Kollegen, Gesellschaftern und Spendern selbstständig gemacht. Wir haben eine gGmbH gegründet und sind jetzt unser eigener Träger.

Online-Redaktion: Wer führt die Förderstunden durch?

Weber: Fast ausschließlich Lehramtsstudierende, insgesamt sind rund 50 Lehramtsstudierende an dem Projekt beteiligt. Zurzeit kooperieren wir mit sieben Schulen im Wedding, fünf Grundschulen, einem Gymnasium und einer Sekundarschule, an denen jeweils drei bis fünf Lehramtsstudierende im Einsatz sind. Sie sind den Lehrerinnen und Lehrern fest zugeordnet, gehen mit ihnen in den Unterricht oder geben am Nachmittag individuelle Nachhilfe. Eigentlich sollte das Projekt ausschließlich an Schulen stattfinden, aber als die Räume im Medienhof frei wurden, habe ich darin ein Bildungszentrum gegründet, mitten im Kiez, inmitten der beteiligten Schulen. Das war ein guter Synergieeffekt, am Nachmittag kommen die Kinder hierher, die man schon von den Schulen kennt, und sie bringen ihr Wissen dann in die Schule zurück. Stadtteil und Schule werden so mehr als bisher verwoben.

Online-Redaktion:
Und am Medienhof funktioniert die Nachhilfe am Nachmittag?

Weber: Sechs, sieben Lehrkräfte, die neben den beiden Festangestellten täglich da sind, üben mit ihnen Deutsch, Mathe, Englisch und auch andere Fächer. Ich dachte zunächst auch, dass keiner kommt, aber das Gegenteil ist der Fall. Vom ersten Tag an war es voll, und es kommen immer wieder neue Kinder und Jugendliche dazu. Hier findet man zu 90 Prozent Kinder von Hartz IV-Empfängern, und alle lernen. Es kommen natürlich nur die Kinder und Jugendlichen zu uns, die lernen wollen, die Ehrgeiz haben, aber alleine nicht weiterkommen, weil ihnen keiner den Schulstoff näher erklären kann. Diese Kinder begreifen meist sehr schnell. Es gibt einen großen Bedarf an dieser individuellen Nachhilfe, die natürlich auch immer Sprachnachhilfe ist, weil die Muttersprache ja bei fast allen eine andere ist. Was die bildungsbürgerlichen Kinder zuhause an Unterstützung von ihren Eltern bekommen, haben diese Kinder nicht. Und da in Deutschland die Familien sehr entscheidend für den Lernfortschritt sind, scheitern sie leider oft. Wir ersetzen ihnen sozusagen die Unterstützung in den Familien und arbeiten mit ihnen individuell an ihren Sprach- und Fachproblemen.

Online-Redaktion: Wie läuft die Nachhilfe ab, muss man sich dafür anmelden?

Weber: Unsere Nachhilfe ist sehr niedrigschwellig, man kann einfach zwischen drei und sechs Uhr vorbeikommen, ohne sich vorher anzumelden, und bekommt Hilfe. Sie kostet nichts, und man kann jederzeit gehen. Das hilft! Die Kinder hier sind nicht so diszipliniert, dass sie sich nach einem langen Schultag noch auf zwei Stunden Nachhilfe konzentrieren können. Das haben wir ja an den Schulen versucht, und es hat nicht geklappt. Aber dieses offene, niedrigschwellige Konzept funktioniert in sozial schwierigen Kiezen sehr gut.

Online-Redaktion: Wäre es nicht Aufgabe der Schule, mehr zu fördern?

Weber: Hier im Wedding sieht die Lage an den Schulen besorgniserregend aus. An den Schulen sind zu 98 Prozent, zum Teil sogar zu 100 Prozent, nur türkisch-arabische Schülerinnen und Schüler und fast ausschließlich Kinder von Hartz IV-Empfängern. Durch diese gleichzeitige ethnische und soziale Segregation gibt es nicht nur Sprachprobleme, sondern auch viele Störungen, Gewaltvorfälle und Disziplinlosigkeiten. Außerdem hat jede Klasse eine hohe Anzahl an Kindern mit Beeinträchtigungen, die eigentlich einer speziellen Förderung bedürften. Vor allem an den Sekundarschulen ist das Lernniveau äußerst niedrig, und häufig ist es schwierig, überhaupt eine Lernsituation herzustellen. Die Klassen werden überwiegend von Studierenden und Quereinsteigern unterrichtet, weil ausgebildete Lehrer in andere Bezirke wechseln. Viele ehrgeizige Schülerinnen und Schüler mit Potenzial können sich in einer solch nachteiligen Bildungssituation nur recht eingeschränkt entfalten.

Online-Redaktion: In welchen Fächern und Inhalten bekommen die Kinder und Jugendlichen bei Ihnen Unterstützung?

Weber: Das ist eine gute Frage, und das trifft auch einen Kernpunkt. Ab dem 5. Schuljahr beginnt der Fachunterricht, und ab da kommen diese Kinder nicht mehr mit, weil sie die Fachtexte einfach nicht verstehen. Das war auch das Problem, das die Stiftung Mercator erkannt und wissenschaftlich begleitet hat. Das Hauptproblem dieser Kinder und Jugendlichen liegt im Schriftsprachlichem, sowohl was das Leseverstehen angeht als auch den eigenen schriftlichen Ausdruck. Sie können zwar alle Deutsch reden, Alltagsdeutsch, aber bei schriftlichen Fachtexten hört ihr Verständnis meist auf. Sie verstehen dann einen Text über die Verdauung nicht oder können keinen Text über Vulkanausbrüche schreiben. Und der Unterricht geht häufig über diese Kinder hinweg. Eine strukturierte, effektive Sprachförderung im Fach existiert kaum. Deshalb versagen viele dieser Kinder in der Schule, auch die, die wirklich wollen und bei besserer Förderung auch könnten. Viele Kinder werden alleine gelassen oder verlassen die Schule mit schlechten Abschlüssen. Das Innovative unseres Projekts ist, dass wir das Fachliche mit dem Sprachlichen verbinden, also den fachlichen Inhalt mit einer gezielten Sprachförderung individuell vermitteln.

Online-Redaktion: Wie erfolgreich ist SprInt?

Weber: Wir führen regelmäßig Evaluationen durch, fragen die Kinder, wie sich ihre Noten verbessert haben, und stellen dabei fest, dass sie durch unsere Förderung im Schnitt um zwei Noten besser werden, wenn sie regelmäßig kommen. Die Kinder geben uns auch Feedback, und das ist sehr positiv. Wir merken den Erfolg ja auch daran, dass so viele täglich kommen.

Online-Redaktion: Der Medienhof-Wedding ist für viele Kinder bestimmt ein wichtiger Teil ihres Lebens geworden?

Weber: Ja, sie merken, dass sie hier nicht ständig beurteilt werden und dass man sie einfach unterstützen will. Es kommen ja auch nur die, die etwas erreichen wollen, und mit denen macht die Arbeit wirklich Spaß und ist erfüllend. Wir bereiten sie auch auf das Abitur und die mittlere Reife vor, und wenn sie ihre Abschlüsse dann bestehen, ist das wirklich ein tolles Gefühl - für sie und für uns. Durch den Kontakt mit den jungen Studierenden, die die Nachhilfe durchführen und die überwiegend aus bildungsbürgerlichen Schichten kommen, ergeben sich außerdem Gespräche, die die Kinder und Jugendlichen sonst nicht hätten. Dadurch bekommen sie andere Perspektiven und Handlungsoptionen mit.

Online-Redaktion: Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Weber: Wir überlegen einen zweiten Standort in einem anderen Teil im Wedding aufzumachen. Außerdem haben wir Materialien entwickelt, die die Sprach- und Lernprobleme im Fach verbinden. Die möchte ich gerne herausgeben und ab Sommer online für Lehrkräfte unter www.bildung-sprint.de zur Verfügung stellen, Was mir noch wichtig wäre, ist, die Jugendlichen in eine Berufsausbildung zu kriegen. Es gibt Berufscoaches, die regelmäßig in den Medienhof kommen und die Jugendlichen auf die Berufswelt vorbereiten. Hier im Wedding gehen ein paar junge Leute aufs Gymnasium oder studieren, aber eine Berufsausbildung machen nur wenige. Die meisten Jungs werden nach der Schule Pizzaausträger oder arbeiten in der Dönerbude, die Mädchen werden Bäckereiverkäuferin oder heiraten. Diese jungen Menschen sollten wissen, was es für Möglichkeiten gibt, und herausfinden, was sie wollen, und dann in eine Berufsausbildung individuell begleitet werden. Viele Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder Richter oder Arzt werden, und scheitern häufig an diesen Erwartungen. Eine Lehre wäre für viele erst mal das Richtige. Darauf können sie ja noch aufbauen und später studieren. Jetzt ist es aber so, dass sie oft ungelernt bleiben oder sogar weiter Hartz IV beziehen. Da geht dann viel Potenzial verloren.

 

Herbert Weber ist Geschäftsführer der SprInt gGmbH im Berliner Wedding. Die Sprach- und Bildungsförderung hat er 2005 im Brennpunktkiez Berlin-Wedding gegründet und betreut sie seitdem. Die gemeinnützige gGmbH ist im Bildungszentrum Medienhof-Wedding und an sieben Kooperationsschulen im Kiez mit rund 50 Lehramtsstudierenden und drei Hauptamtlichen tätig. Herbert Weber kommt selbst aus einer Dachdeckerfamilie und hat nach einer Gärtnerlehre als erster in der Familie studiert. Er hat sowohl das Staatsexamen in Deutsch und Politik als auch das Magisterstudium in Politik absolviert. Danach war er an verschiedenen Schulen als Deutschlehrer und in der politischen Bildung tätig sowie als Redakteur angestellt, bevor er das SprInt-Projekt gründete.

 

 

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 30.01.2020
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