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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 15.09.2022:

„Die Kompetenzen in Mathematik und Deutsch sind erheblich gesunken.“

Deutliche Leistungsabfälle bei Viertklässler*innen
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Bildrechte: IW Medien/iwd

Die Kompetenzen der Grundschüler*innen in Deutschland sind während der Corona-Pandemie deutlich zurückgegangen. Das zeigt eine Vorabauswertung des IQB-Bildungstrend 2021, der vor den Sommerferien im Jahr 2021 deutschlandweit in den vierten Klassen durchgeführt wurde, sowie die IFS-Schulpanelstudie, eine repräsentative Untersuchung des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Universität Dortmund mit Daten aus dem Frühsommer 2021.


Es war zu erwarten, dass sich die monatelangen Schulschließungen und Unterrichtseinschränkungen während der Corona-Pandemie negativ auf die soziale Entwicklung und den Lernerfolg der Schüler*innen in Deutschland auswirken. Mit einer Vorabauswertung des IQB-Bildungstrend 2021 konnte diese Vermutung bestätigt werden: Wissenschaftler*innen des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität zu Berlin ließen unter der Leitung von Prof. Dr. Petra Stanat im Sommer 2021 deutschlandweit mehr als 26.844 Viertklässler*innen in 1.464 Grund- und Förderschulen aus allen 16 Ländern auf ihre Fähigkeiten in Deutsch und Mathematik prüfen. In allen untersuchten Bereichen sind die Kompetenzen zum Teil erheblich gesunken.

IQB-Bildungstrend 2021 im Primarbereich
Im IQB-Bildungstrend 2021 wurde zum dritten Mal das Erreichen der Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) für den Primarbereich in den Fächern Deutsch und Mathematik überprüft. Im Fach Deutsch wurden die Teilbereiche „Lesen“, „Zuhören“ und „Orthografie“ getestet, im Fach Mathematik die Kompetenzbereiche „Zahlen und Operationen“, „Raum und Form“, „Muster und Strukturen“, „Größen und Messen“ sowie „Daten, Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit“. Der am 1. Juli 2022 veröffentlichte Kurzbericht zu den zentralen Ergebnissen zeigt, dass deutlich weniger Viertklässler*innen in den Fächern Deutsch und Mathematik, im Vergleich zu den letzten Erhebungen in den Jahren 2011 und 2016, die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) erreichen. Die Kompetenzen in allen untersuchten Fächern und Bereichen sind im Vergleich zur Erhebung 2016 zum Teil deutlich gesunken. So entspricht der Kompetenzrückgang im Lesen etwa einem Drittel eines Schuljahres, im Zuhören einem halben Schuljahr und in der Orthografie sowie in Mathematik jeweils einem Viertel eines Schuljahres. Zugleich ist der Anteil der Schüler*innen gestiegen, die am Ende der vierten Klasse nicht über die von der Kultusministerkonferenz festgelegten Mindeststandards verfügen. Im Lesen und Zuhören trifft dies auf gut 18 Prozent der Viertklässler*innen zu, in der Orthografie auf 30 Prozent und in der Mathematik auf 22 Prozent. Allerdings gab es schon zwischen 2011 und 2016 einen negativen Trend. „Wir können nicht sagen, wie groß der Anteil der Pandemie an der erneuten Verschlechterung ist“, gibt Petra Stanat bei der Vorstellung des Kurzberichts zu Bedenken. Ursachen werden in der empirischen Bildungsforschung auch in der Personalnot an den Schulen und der Heterogenität der Kinder und Jugendlichen gesehen. Weitere Befunde des IQB-Bildungstrends zeigen auch ein etwas geringeres fachliches Interesse für Deutsch und Mathematik, aber eine nach wie vor hohe Schulzufriedenheit und positive Bewertung der sozialen Integration in der Schulklasse. Vertiefende Analysen und Ergebnisse zu den einzelnen Ländern werden im Oktober 2022 in einem umfassenderen Berichtsband publiziert.

Soziale Ungleichheiten verschärfen sich
Größer geworden sind während der Corona-Pandemie laut IQB-Bildungstrend 2021 auch die sozialen und zuwanderungsbezogenen Ungleichheiten. Dass ein höherer sozioökonomischer Status der Eltern in Deutschland mit höheren Leistungen der Kinder einhergeht, ist zwar kein neuer Befund, dieser hat sich der Studie zufolge aber noch einmal verstärkt. Auch zeigen Schüler*innen aus zugewanderten Familien in allen Bereichen durchschnittlich schwächere Leistungen als Kinder ohne Migrationshintergrund. Karin Prien, Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Bildungsministerin des Landes Schleswig-Holstein, bestätigt: „Die Folgen der Corona-Pandemie bei den Viertklässlerinnen und Viertklässlern sind gravierend. Die Ergebnisse zeigen, dass besonders Kinder von den pandemiebedingten Schulschließungen betroffen waren, die zu Hause weniger Unterstützung erhalten konnten. Dies unterstreicht einmal mehr die Bedeutung von schulischem Lernen für die Bildungsgerechtigkeit. Die Schülerinnen und Schüler brauchen den Präsenzunterricht in der Schule und langfristig angelegte Maßnahmen, um die pandemiebedingten Lernrückstände aufzuholen.“

Die Bundesländer fordern, das Bundesprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ in Bezug auf Lernrückstände sowie psychosoziale Effekte im Schulbereich zu verlängern. Das allein wird aber nicht reichen. Stanat weist darauf hin, dass sich der hohe Anteil an Kindern, denen grundlegende Fähigkeiten fehlen, nicht durch vorübergehende Aufholprogramme dauerhaft verringern lasse. Vor allem das Lesen sei als Basiskompetenz für den weiteren Bildungsweg entscheidend und müsse intensiver gefördert werden.

Die IFS-Schulpanelstudie
Dies bestätigt auch die Leiterin der IFS-Schulpanelstudie, eine repräsentative Untersuchung des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Universität Dortmund, die im März 2022 veröffentlicht wurde und aufzeigt, dass Viertklässler*innen in Deutschland in ihrer Lesekompetenz während der Pandemie zurückgefallen sind. Mit dem IFS-Schulpanel wurde anhand von für Deutschland repräsentativen Daten festgestellt, dass sich die mittlere Lesekompetenz von Schüler*innen in der vierten Klassenstufe von der Lesekompetenz Gleichaltriger vor der Pandemie erheblich unterscheidet. Den Schüler*innen fehle rund ein halbes Lernjahr im Vergleich zu 2016. Die Ergebnisse seien alarmierend, es brauche umfassende Gegenmaßnahmen, so die Studienleiterin Nele McElvany. „Die Lernrückstände beim Lesen von einem halben Schuljahr sind so massiv, dass man sie nicht mit Einzelmaßnahmen wie Nachhilfe-Unterricht auffangen könnte“, betont die Bildungsforscherin und Direktorin des IFS. „Wir steuern auf ein großes Problem zu, dass sich durch die gesamte Schulzeit und bis hin zu nicht erfolgreichen Schulabschlüssen ziehen kann.“

Für die Analyse waren Daten von 4290 Viertklässler*innen an 111 Schulen ausgewertet worden. Davon hatten 2208 Schüler*innen den standardisierten Lesekompetenztest IGLU im Jahr 2016 bearbeitet. Im Frühsommer 2021, nach gut einem Jahr Lernen unter pandemiebedingten Einschränkungen, waren es 2082 Viertklässler*innen, die mit dem Test der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) untersucht wurden. Nach häufigen Wechseln zwischen Distanz- und Präsenzlernen, Unterrichtsausfällen oder hybriden Modellen stellte das Forscherteam fest, dass die mittlere Lesekompetenz am Ende der vierten Klassenstufe im Jahr 2021 mit 980 Punkten im Mittel deutlich geringer ist als 2016 mit 1.000 Punkten. Lese-Leistungsabfälle sind durchgängig bei allen Gruppen unter den Viertklässler*innen vorhanden. So ist der Anteil der starken und sehr starken Leser*innen von 44 Prozent (2016) auf 37 Prozent gesunken. 28 Prozent der Viertklässler*innen verfügen 2021 nur über eine schwache oder sehr schwache Lesefähigkeit. 2016 waren es noch 22 Prozent. Mädchen sind im Mittel zwar weiterhin stärker im Lesen als Jungen, bei beiden sind die negativen Effekte in der Pandemie aber in ungefähr gleichem Ausmaß festgestellt worden. Auch in den beiden Gruppen aus Schüler*innen mit „mehr als 100 Bücher zuhause“ und „wenig Bücher daheim“ - die Anzahl der Bücher zuhause gilt als Indikator für den soziokulturellen Hintergrund von Schüler*innen, Kinder mit „mehr als 100 Bücher zuhause“ können im Mittel besser lesen als Kinder mit wenig Büchern - hat sich die Leistung im Vergleich zu 2016 deutlich verringert. Darüber hinaus ist auch der Lesekompetenz-Unterschied zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund größer geworden. Viertklässler*innen mit ungünstigen Lernbedingungen, dazu zählen kein eigener Schreibtisch oder kein zuverlässiges Internet, verlieren 2021 zudem im Schnitt mit 27 Punkten mehr als Kinder mit guten Rahmenbedingungen (16 Punkte).

Lesen als Schlüsselkompetenz intensiver fördern
Wegen des bevorstehenden Wechsels an die weiterführenden Schulen befinden sich Kinder der vierten Klassen an einem besonders kritischen Zeitpunkt, heißt es in der Untersuchung. Lesekompetenz - flüssiges und sinnerfassendes Lesen - wird zentral in der Grundschule erworben. Es gilt als Schlüsselqualifikation und ist nicht nur für das Fach Deutsch, sondern für das Verstehen von Texten in allen Unterrichtsfächern wichtig und damit Voraussetzung für eine erfolgreiche Bildungsbiografie. Schon im Dezember 2021 hatte die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) für 2022 mehr Aufmerksamkeit für den Erwerb dieser Schlüsselqualifikation an Grundschulen gefordert. Felicitas Thiel, Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin und Co-Vorsitzende der SWK, hatte darauf hingewiesen, dass „deutschlandweit immer noch zu viele Kinder die Grundschule verlassen, ohne ausreichend lesen und schreiben zu können.“ Aufgrund der durch die Corona-Pandemie verstärkten Defizite beim Lesenlernen müssten Grundschüler*innen nun noch besser gefördert werden.

Um die Lücke im Erwerb der Lesekompetenz zu schließen, komme es laut Forschungsteam um Nele McElvany auf umfassende und wirksame Unterstützungs- und Förderangebote an. „Die hier untersuchten Kinder besuchen aktuell die fünfte Klassenstufe - neben den Grundschulen müssen für die Leseförderung also auch die weiterführenden Schulen systematisch mitgedacht werden“, so McElvany und fordert ein wissenschaftlich fundiertes Gesamtkonzept für die Schulen. Das Aufholen von Rückständen solle in den Unterricht eingewoben werden, aber auch das Üben nach individuellen Plänen für jede*n einzelne*n Schüler*in im Ganztag und daheim seien wichtig.




Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 15.09.2022
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